Theaterpreise

39. Theatertage am See mit dem Motto »Theater darf das!« sind beendet

Noch mehr Publikum und Aufführungen wie vor Corona. 25mal wurde in den beiden Theatersälen gespielt, vorwiegend vor vollen Rängen. Rund 4000 Plätze wurden an den sechs Theatertagen belegt. Auch die Wochenendkurse fanden wieder großen Anklang. Insgesamt 160 Personen bildeten sich weiter in Theater- und Tanztechniken. In den Schulen der Region gab es rund 25 Tage Schulprojekte im Rahmen der Theatertage. Das ist die Kurzbilanz der 39. Theatertage am See, die in der letzten Woche wieder in der Bodensee-Schule Friedrichshafen stattfand.

Die neunköpfige Jury vergab drei gleichberechtigte Preise, die als Theaterpreis des Bodenseekreises von Bürgermeister Stauber (Friedrichshafen) überreicht wurden. Gewinner sind die beiden internationalen Theaterkooperationen MAYBE - A Tale of two Cities (Kapstadt - München) und MADELEINE VON PROST mit GRAFTWERK (Grenoble - Heidelberg). Besonders gewürdigt wurde der dritte Preisträger WILDWUCHS THEATER aus Bamberg mit 1984 als besonders mutige Inszenierung unter dem Motto der 39. Theatertage "Theater darf das!".

In der Abschlussveranstaltung des Festivals wurden die Preisträger lautstark bejubelt. Eine Gruppe stand zweimal auf dem Treppchen: Den Publikumspreis, der von den Stiftern Regina Pohle und René Jäger aus Dresden persönlich überreicht wurde, holte sich die Gruppe MADELEINE VON PROST. Die Abstimmung im Publikum war breit gestreut, doch Madeleine setzte sich klar durch.

Beim vorangegangen justBW, dem Jugend- und Schultheaterfestival des Landes Baden-Württemberg gab es keine Preisträger, denn der Austausch und die Reflektion findet in sogenannten Rückspielen und Workshops statt.

Starke Gruppen mit mutigen Inszenierungen spielten sich frei, denn das Motto »Theater darf das!« liess vieles zu. Vor allem die Kinder und Jugendlichen begeisterten mit brandaktuellen Themen.
Bemerkenswert bei den Besuchern des Festivals ist, dass die Theatertage zu Exkursionen genutzt werden. So sind nicht nur die 24 Theatergruppen mit 238 Spielern zu Gast, sondern auch Spielgruppen, Organisatoren anderer Festivals, Jugend- und Seniorengruppen aus Amateurtheaterverbänden unter dem Publikum. Sie alle schätzen die Atmosphäre der Theatertage am See, die nach fast vierzig Jahren als ein »Leuchtturm« in der europäischen Amateurtheaterszene bezeichnet werden.

Zu den 40. Theatertagen lädt das Leitungsteam wieder direkt vor die Karwoche ein: von 8. bis 13. April 2025. Das Motto ist dem Jubiläum gewidmet: »Theater - ein Fest!«

Laudationes Preisträger 39. Theatertage am See

Friedrichshafen, 19. - 24. März 2024
Die Jury des Amateurtheaterfestivals der 39. Theatertage am See unter dem Motto “Theater darf das!” hat 12 aktuelle Produktion aus dem D/A/CH, Marokko, Italien inkl. französisch-deutscher und südafrikanisch-deutscher Coproduktionen gesichtet. Unter diesen beeindruckenden Arbeiten, die eine außergewöhnliche Vielfalt ästhetischer Formen, Arbeitsweisen und Gruppenzusammensetzungen zeigten, hat sie drei besondere Produktionen mit dem diesjährigen Theaterpreis ausgezeichnet.

South African-German friendship project, Eesterivier (Südafrika) und Unterschleißheim: [Maybe] - A tale of two cities (Ausgezeichnet mit 1000 € Preisgeld)

Die im Rahmen einer langjährigen kulturellen Partnerschaft zwischen Eesterivier (nahe Kapstadt) und Unterschleißheim über jeweils zweiwöchige Theatercamps entstandene Produktion mit 25 Jugendlichen zeigte, wie ästhetisch ausgereiftes Amateurtheater in einer co-produktiven Arbeitsweise entstehen und gleichzeitig Brücken zwischen den Lebenswirklichkeiten der Spieler:innen schlagen kann.

Auf der einen Seite erlebten die Zuschauenden München mit der zunehmenden Entfremdung des Menschen von sich selbst, mit der von gesellschaftlichen Szenarien und Erwartungen oft unmöglichen Findung und Bewahrung der eigenen Identität. Auf der anderen Seite erlebten sie Kapstadt mit grotesken Diskrepanzen von Armut und Reichtum, der Entfremdung und – auch physischen – Abgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen voneinander.  
Mitreißende, lebhafte und präzise gearbeitete rhythmische und chorische Szenen benannten die unterschiedlichen Probleme des Alltags beider Städte, zeigten den Kontrast sowie Gleichartigkeiten. Die Darstellung und die Geschwindigkeit der Produktion forderten von den Zuschauenden aktive Entscheidungen, wohin man real und im übertragenen Sinne jetzt im Moment den Blick richten wollte. Die intensive und grenzenlos vertrauende Zusammenarbeit des Ensembles ließ dabei keinen Zweifel daran, wie die globalen und lokalen Herausforderungen der Zukunft angegangen werden können: Gemeinsam!

Madeleine von Prost Kollektiv, Grenoble/Heidelberg: Graftwerk (Ausgezeichnet mit 1000€ Preisgeld)

Die Darsteller:innen dieser französisch-deutschen Koproduktion lernten sich in einem Theaterlabor des Theaterfestivals in Grenoble kennen und entschlossen sich, als ein internationales Kollektiv zu arbeiten. Die so entstandene Produktion war beispielhaft für eine kreative Grenzüberschreitung sowohl bezogen auf Nationalitäten als auch auf Theaterformen. Die Gruppe verband mühelos Tanz, Theater, Musik und Sprache und fand dabei auch einen ungewöhnlichen inhaltlichen Zugang: Die auf den ersten Blick sperrige Thematik der Pflanzenveredelung wurde durch die große Bühnenpräsenz der Spieler:innen und ihre außergewöhnliche Bewegungsspannung und -präzision leicht zugänglich und bot dem Publikum einen äußerst anschlussfähigen Blick darauf, wie die Natur Fremdes integriert, ohne dass dies eine Aufgabe der Individualität erfordert.

Genau und vielfältig in der Aneignung von natürlichen Bewegungen und Geräuschen verbalisierten sie nur ausgewählte Passagen und nutzten alle nonverbalen Ausdrucksmittel: Schlürfen, Keuchen und chorisches Atmen - mal langsam, mal hektisch im Takt. Das Publikum hörte einen aufbrausenden Wind und konnte organisches Material dabei beobachten, wie es in- und aneinander wächst. Dies verursachte zeitweise körperliche Reaktionen: Erschrecken bei quiekenden Angstlauten, ein Nicht-Weghören-Können bei abstoßend-anlockenden, schneckenhaften Schmatzgeräuschen. Einzel- und Gruppenkonstellationen.            
An- und Entspannung gingen fließend ineinander über, bei minimalem Einsatz einfachster, aber immer bedeutungsklarer Hilfsmittel - ein Stuhl und rote Bänder im Kontrast zu Kleidung in Pastell.

Die wenigen Textpassagen waren in Englisch, Deutsch und Französisch verfasst und ermöglichten dem Publikum einen vertieften inhaltlichen Zugang zur Thematik über Sprachbarrieren hinweg.

Die Inszenierung zeigte eindrucksvoll, wie ein aktuelles, gesellschaftliches Thema durch einen neuen Blickwinkel und große ästhetische Schönheit einem breiten Publikum erschlossen werden kann.

WildWuchs Theater, Bamberg: 1984 (Ausgezeichnet mit 1000€ Preisgeld und dem mit 500€ dotierten Sonderpreis für “Theater darf das!”)

Die Produktion des Theaterkollektivs wagte sich erfolgreich an die Bühnenumsetzung des weltbekannten Romans von George Orwell! Es gelang Ihnen dabei mühelos, die Dystopie in das Heute zu bringen, ohne die Literatur modifizieren zu müssen. Dabei verband die Inszenierung Referenzen zu kulturell ikonischen Werken der Neuzeit – die Filmreihe Matrix, die Musik der frühen NDW (“Tanz den Mussolini”), die Trash-Ästhetik des Ballonseidenen – mit spannender, kompetenter und ästhetisch ansprechender Nutzung einer großen Bandbreite technischer Medien. Dieser Einsatz erzeugte in keinem Moment einen gewollten Eindruck oder Fremdkörpercharakter, sondern fügte sich organisch in das Thema der Inszenierung ein. Die allgegenwärtige Überwachung des “Big Brother” war über eine Handykamera im wahrsten Sinne des Wortes präsent, welche die Spielenden auf der Leinwand von real bis als Figuren einer Bleistiftzeichnung zeigte.

Die starke Bühnenpräsenz und Spannung der Spieler:innen, aber auch ihr Mut zum Humor übertrug sich auf das Publikum und hielt es in einer gekonnten Schwebe zwischen Faszination und Unerträglichkeit.

Die Inszenierung war sowohl spielerisch als auch dramaturgisch beispielhaft, aber darüber hinaus hat das Kollektiv sich und dem Publikum ein hochaktuelles und beängstigendes Thema zugemutet - allgegenwärtige Überwachung und die perfekte totalitaristische Manipulation des Einzelnen unter Auslöschung von Individualität und Menschlichkeit.  
Sie haben sich positioniert: Theater darf … auch eine Zumutung sein, mit bis ins Unerträgliche gearbeiteten Szenen, die schwer auszuhalten sind. Eben das darf Theater auch: Es darf Verstören, mit unseren Ängsten spielen, kalkuliert die Grenzen dessen überschreiten, was wir (eigentlich) wollen und uns zeigen, wovon wir den Blick (zu oft) abwenden.

Für die Jury des Amateurtheaterfestivals der 39. Theatertage am See
Dr. Sandra Wirth (Bund Deutscher Amateurtheater) & Guido Alexius (Bundesverband Theaterpädagogik)

Laudation award winners 39th Theatertage am See

Friedrichshafen, March 19th - 24th 2024
The jury of the amateur theatre festival of the 39th Theatertage am See under the motto "Theatre can do that!" saw 12 current productions from D/A/CH, Morocco, Italy including French-German and South African-German co-productions. Among these impressive works, which showed an extraordinary variety of aesthetic forms, working methods and group compositions, three special productions were awarded this year's theatre prize.

South African-German friendship project, Eesterivier (Südafrika) und Unterschleißheim: [Maybe] - A tale of two cities (Awarded with 1000€ prize money)

The production with 25 young people was created as part of a long-standing cultural partnership between Esterivier (near Cape Town) and Unterschleißheim, in a sequence of two-week theatre camps. It showed, how aesthetically mature amateur theatre can be created in a co-productive working method and at the same time, how to build bridges between the realities of the players' lives. In Munich, it’s the increasing alienation of people from themselves and the often impossible task of finding and preserving one's own identity due to social scenarios and expectations.

In Cape Town it’s its grotesque discrepancies between poverty and wealth, the alienation and – also physical – separation of entire population groups from one another. Rousing, lively and precisely crafted rhythmic and choral scenes named the very different problems of everyday life in the two cities and put them in a context that contrasted, but also brougt out the similarity in them.

The presentation and the speed of the production demanded active decisions from the audience as to where they wanted to look in the real and figurative sense of the moment. At the same time, the ensemble's intensive and boundlessly trusting collaboration left no doubt as to how the global and local challenges of the future can be tackled: Together!

Madeleine von Prost Kollektiv, Grenoble/Heidelberg: Graftwerk (Awarded with 1000€ prize money)

The performers of this French-German co-production met in a theatre laboratory at the Grenoble Theatre Festival and decided to work as an international collective. The resulting production is an example of creative border-crossing in terms of both nationalities and theatre forms. The group effortlessly combined dance, drama, music and language and also found an unusual approach to the subject: The topic of plant grafting, which at first glance seems unwieldy, became easily accessible thanks to the great stage presence of the players and their extraordinary tension and precision of movement, providing the audience with an extremely accessible view of how nature integrates the foreign without requiring to give up the individuality.

Precise and diverse in their appropriation of natural movements and sounds, they verbalised only selected passages and used all non-verbal means of expression: Slurping, gasping and choral breathing - sometimes slowly, sometimes frantically in time. The audience heard a roaring wind and could observe organic material growing in and around each other. At times, this caused physical reactions: Fright at squealing sounds of fear, an inability-to-listen-away to repulsive, enticing snail-like smacking noises. Individual and group constellations, tension and relaxation flowed smoothly one into one another, with minimal use of the simplest but always meaningful aids - a chair and red ribbons in contrast to clothing in pastel colours.

The few passages of text were written in English, German and French, enabling the entire audience to gain in-depth access to the subject matter across language barriers.

The production impressively demonstrated how a current social issue can be made accessible to a wide audience through a new perspective and great aesthetic beauty.

WildWuchs Theater, Bamberg: 1984 (Awarded with 1000€ prize money and the special prize of 500€ for "Theatre can do that!")

The theatre collective's production ventured into the stage adaptation of George Orwell's world-famous novel - and was a success! They succeeded effortlessly in bringing the dystopia into the present day without having to modify the literature, by combining references to culturally iconic works of modern times – the Matrix film series, the music of the early NDW ("Tanz den Mussolini"), the trash aesthetics of balloon silk suits – with exciting, competent and aesthetically pleasing use of a wide range of technical media. At no point did this usage create an deliberate or alien body impression, but rather fitted organically into the subject of the production. The omnipresent surveillance of the "Big Brother" was thus present in the truest sense of the word via a mobile phone camera, which showed the actors on the screen as figures in a pencil drawing.

The strong stage presence and tension of the players, but also their courage to use humour, was transferred to the audience and kept them in a skilful balanced floating state between fascination and unbearability.

The production was both playful and dramaturgically exemplary, but beyond that, the collective has also confronted itself and the audience with a highly topical and frightening subject - omnipresent surveillance and the perfect totalitarian manipulation of the individual with the eradication of individuality and humanity. They have positioned yourself: Theatre can ... also be an imposition, with scenes that are worked to the point of being unbearable and difficult to endure.

That's exactly what theatre is allowed to do: It can be disturbing, play with our fears, calculatedly cross the boundaries of what we (actually) want and show us what we (too often) look away from.

For the jury of the amateur theatre festival of the 39th Theatertage am See
Dr. Sandra Wirth (Bund Deutscher Amateurtheater) & Guido Alexius (Bundesverband Theaterpädagogik)